Stress Shielding - Therapie von Schutzspannungen bei Verletzungen (Tendinopathien).
Schmerzen nach OP? Einmal falsch aufgetreten und es wird nicht besser? Warum Ihre Sehne nach wenigen Minuten „auflegt“ – und 15 Sekunden alles ändern können
Wussten Sie, dass längeres Training Ihrer Sehne oft gar nichts bringt? Neue zellbiologische Erkenntnisse zeigen: Sehnenzellen haben eine Art innere Stoppuhr. Nach nur kurzer Belastung schalten sie auf „stumm“ und sind für Stunden nicht mehr ansprechbar. Sie können diesen biologischen Schalter für sich nutzen:
- Die 6-Stunden-Regel: Warum Sie in der Reha öfter trainieren sollten, als Sie denken – aber viel kürzer.
- Der 15-Sekunden-Trick: Wie Sie mit minimalem Zeitaufwand (nur 2-4x pro Woche!) Ihre Achillessehne fast immun gegen Verletzungen machen – ein „Tipp“ für LäuferInnen.
- Der anatomische Irrtum: Warum der Schmerz, den Sie fühlen, oft gar nicht aus der Sehne selbst kommt, sondern aus ihrer Hülle – und was das für Ihre Therapie bedeutet.
Aktiven Widerstand lernen: Das gesunde Zusammenspiel von Muskeln, Sehnen und Faszien.
Neue Erkenntnisse zur Molekularbiologie von Bindegewebe und weisen auf Folgen für die manuelle Therapie hin: Therapeutisch spüren wir oft myofasziale Beschwerden dort auf, wo hohe Sehnen- und Bänderanteile vorhanden sind. Patienten*innen erzählen beispielsweise nach Hüftoperationen von schmerzhafte Stellen, unangenehmen Bewegungen, Bewegungsunsicherheiten und zeigen Schonhaltungen. Wir erspüren dann oft unter anderem negative Veränderungen im Bereich des Tractus iliotibialis bzw. des Musculus tensor fasciae latae. Andere entwickeln auch Tendinopathien im Bereich der Achillessehne nach ständigem Joggen bzw. bei übergroßen Belastungen durch Sport oder kleineren Unfälle.
Schmerzhafte Schutzspannung der Sehnen?
Wenn sich in einer Sehne eine einzelne, lokal begrenzte Verletzung befindet, ist dieser Bereich meist weniger steif und weniger widerstandsfähig gegenüber Zugbelastungen als die gesunden Kollagenfasern, die sich rechts und links davon befinden. Wird die Sehne nun beansprucht – sei es durch Muskelkontraktion oder durch passives Dehnen –, verteilt sich die Spannung um die verletzte Stelle herum, sodass diese geschont wird1. Ziel der therapeutischen Bewegungsübungen ist es jedoch, nicht das ohnehin gesunde Gewebe zu stimulieren, sondern gezielt die Bereiche zu erreichen, die die Stimulation am dringendsten benötigen. Baar und andere Sehnenforscher untersuchten aktuell dieses zellbiologisches Phänomen der Sehnen und Muskeln1.
Foto: A. Klein, Yoga als ideale Prävention bei Tendinopathien - Praxis Bruckmann
Physiologischer Mechanismus: Die „Zell-Stille“
Diese Forscher beschreiben „Zell-Stille“ als eine Art biologische Ein‑/Aus-Schaltung der Sehnenzellen gegenüber Belastungssignalen. Folgende Mechanismen sind dabei zu beachten:2 3
Aufmerksamkeitsdefizit der Zellen beachten - kürzere Stimulationsdauer
Sehnenzellen (Tenoyzten) reagieren nur kurzzeitig1 2 (wenige Minuten) auf mechanische Reize, bevor sie „abschalten“4. Stellen Sie sich einen Vortrag vor, wo Sie nach kurzer Zeit denken, „Ach schon wieder hundert Folien“. Früher waren das die Dia-Abende bei Freunden (die Boomer-Generation kennt das). Warum sollten unsere Zellen auch anders reagieren wie wir selber?
Konsequenz: Die therapeutische Intervention zeitlich anpassen.
Refraktärzeit: Kein Anruf unter dieser Nummer?
Die Refraktärzeit3 ist vergleichbar mit einer biologischen „Zwangspause“ oder einer „Besetzt-Phase“ bei einem Telefon.
Im Kontext der Sehnenzellen bedeutet das konkret:
- Der Auslöser: Sie trainieren die Sehne (der „Anruf“ kommt rein). Die Zellen reagieren darauf, indem sie Botenstoffe produzieren, um das Gewebe zu stärken.
- Das „Besetzt-Zeichen“ (Refraktärzeit): Nach kurzer Zeit (wenigen Minuten) schalten die Zellen ab. Sie sind gesättigt. Selbst wenn Sie weiter trainieren, können die Zellen dieses Signal nicht mehr verarbeiten. Sie sind „taub“ für weitere Reize.
- Die Erholung: Es dauert etwa 6 Stunden2 3, bis dieser Zustand vorbei ist. Erst danach sind die Zellen wieder „aufnahmefähig“ und können auf einen neuen Trainingsreiz reagieren.
Kurz gesagt: In der Refraktärzeit bringt mehr Training keinen Mehrwert2, weil die zellulären Schalter vorübergehend deaktiviert sind.
Konsequenz: Längeres Training in einer Einheit bringt keinen metabolischen Mehrwert für die Sehne, da die Zellen bereits „stumm“ sind.
Sehnen: Therapeutische Vorgehensweisen bei Verletzung oder zur Vorbeugung
Wir unterscheiden In der Praxis daher klar Rehabilitation (verletzte Sehne) und Prävention (Vorbeugung - gesunde Sehne):
A. Für verletzte Sehnen (Rehabilitation)
Frequenz: Aufgrund der 6-Stunden-Regel kann und sollte das Training mehrmals täglich durchgeführt werden (z. B. morgens, mittags, abends), um die maximale Anzahl an effektiven Reizen pro Woche zu setzen
Ziel: Maximierung der anabolen Signale zur Heilung.
B. Für gesunde Sehnen (Prävention )
Zielgruppe: Insbesondere Läufer, die häufig trainieren, da hier das Risiko für Mikrotraumata steigt, weil die Erholungszeit für die Sehne zwischen den Läufen oft zu kurz ist.
Dauer: Eine einzelne Stimulation von 15 Sekunden (isometrisch) wird als ausreichend beschrieben, sofern die Belastung homogen über die Sehne verteilt ist .
Frequenz: Es reicht1 aus, dieses präventive Vorgehensweise nur 2- bis 4-mal pro Woche durchzuführen.. Nutzen:Erhöhung der Sehnensteifigkeit und Widerstandskraft ohne die Ermüdung eines vollen Lauftrainings.
Anatomischer Exkurs: Schmerzentstehung - Sehnen
Eigentlich dreht sich dieser Text um ein klinisches Paradoxon: Wie kann eine Sehne schmerzen, wenn sie kaum Nerven hat5? Heute ist die Forschung aber weiter: Der Schmerz entsteht initial in der Hülle („Alarmanlage an der Hauswand“)4. Erst im fortgeschrittenen Stadium wächst die Alarmanlage fehlerhaft in das Innere des Hauses (die Sehne) hinein5. In der gesunden Sehne selbst befinden sich keine Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren)4 5 6. Ursprung: Die Nozizeptoren liegen im Parathenon (Sehnengleitgewebe), welches die Sehne umhüllt. Schmerzsignale entstehen also primär im Peritendineum/Parathenon, nicht im Sehnenkern selbst.
Zusammenfassung für die manualtherpeutische Praxis
Für die klinische manualtherapeutische Anwendung bedeutet das, daß Patienten mit Tendinopathie kurze, isolierte Belastungen (z.B. Isometrie, Pandiculation nach Hanna etc.) durchführen, aber dafür hohe Tagesfrequenz (alle 6 Stunden) einhalten. Aufgabe der Therapie ist dann, Patienten*innen zu entsprechenden Übungen bzw. entsprechender zeitlicher Organisation der Übungen anzuleiten - siehe auch unsere APP-GesundMove.
Prävention: Zusätzlich zu den individuell empfohlenen GesundMoves aus unserer APP können dann 2-4x pro Woche kurze isometrische Halteübungen durchgeführt werden: Das ist ein vorsichtiges statisches Dehnen (15 Sek. und bei 70% der muskulären Maximalkraft), um die Sehne „abzuhärten“, ohne sie metabolisch zu überfordern.
Tendinopathien: Reha und Vorbeugung - Eine therapeutische Übersicht
Übersicht für die Praxis - Sehnenprobleme - Reha und Vorbeugung (Praxis Bruckmann - T. Mörgen)
Muskeln, Faszien und Sehnen zusammen behandeln
In der Praxis Bruckmann ergänzen wir die besprochenen Erkenntnisse zusätzlich durch „Active Resistance“ Bewegungen, um ein therapeutisches Zusammenspiel von Sehnen, Faszien und Muskeln zu ermöglichen. Schleip hat den Begriff „Active Resistance“7 (bzw. aktives Widerstands-Dehnen oder „Loaded Stretching“) in die Faszienforschung eingeführt, um einen Paradigmenwechsel vom rein passiven „Hängenlassen“ hin zu einer aktiven Gewebestimulation zu beschreiben8.
Die aktuelle Forschung (Stand 2024/2025)3 8 9 10 11 12 bestätigt und präzisiert dieses Konzept mittlerweile deutlich speziell im Hinblick auf Muskeln, Sehnen und Faszien. Schleip et.al. unterscheiden heute13 unterschiedliche Arten der Dehnung, die völlig unterschiedliche Effekte haben:
Passives Dehnen: Der Muskel ist entspannt. Der Zug wirkt primär auf die parallelen elastischen Komponenten (Muskelhüllen). Dies führt kurzfristig zu mehr Beweglichkeit, aber kaum zu struktureller Kräftigung.
Active Resistance (Loaded Stretching): Der Muskel wird während der Dehnung aktiv angespannt (exzentrische Arbeit oder isometrische Spannung in endgradiger Position)1 7.
Der Mechanismus: Durch die Anspannung versteift sich der Muskelbauch. Der Zug kann nun nicht mehr im Muskel „verpuffen“, sondern wird direkt an die in Serie geschalteten Strukturen weitergeleitet – also an die Sehnen und Faszien13.
Foto: A. Klein, Loaded Stretching mit endgradiger Position - Praxis Bruckmann - Pandiculation
Aktuelle Meta-Analysen (z.B. Warneke et al., 2024)14 differenzieren noch schärfer. Passives Dehnen wirkt oft nur auf das Nervensystem (Schmerztoleranz steigt)12, ändert aber zu wenig an der Gewebestruktur. Dehnen unter Last (Active Resistance / Exzentrik, propriozeptive neuroale Entspannung3) führt zu tatsächlichen morphologischen Veränderungen (Dicke und Ausrichtung der Kollagenfasern)9. Sie trainieren je nach Stärkegrad und Dauer mit „Dehnungen“ sogar Ihre Muskeln. Das ist aber eher etwas für Kraft- und Leistungssportler*innen, denn für Patienten*innen. Techniken wie aus dem Yin-Yang-Yoga oder propriozeptives neuromuskuläres Entspannen15 13 dagegen helfen beschwerdegeplagten Patienten*innen myofasziale Problemverursacher von Schmerzen bezüglich Steifheit und Bewegungsumfang zu reduzieren. Daher braucht es erfahrene Therapeuten und Therapeutinnen, die diese Techniken und Hilfen achtsam gemeinsam mit Patienten bezogen auf die individuelle Problemlage und auf die Problemlösungen hin anwenden.
References/Literatur
1. Baar K. Minimizing Injury and Maximizing Return to Play: Lessons from Engineered Ligaments. Sports Medicine. 2017;47(S1):5-11. doi:10.1007/s40279-017-0719-x
2. Tam KT, Baar K. Using load to improve tendon/ligament tissue engineering and develop novel treatments for tendinopathy. Matrix Biology. 2025;135:39-54.
3. Gilmore NK, Klimek P, Abrahamsson E, Baar K. Effects of Different Loading Programs on Finger Strength in Rock Climbers. Sports Medicine - Open. 2024;10(1). doi:10.1186/s40798-024-00793-7
4. Lian Ø, Dahl J, Ackermann PW, Frihagen F, Engebretsen L, Bahr R. Pronociceptive and Antinociceptive Neuromediators in Patellar Tendinopathy, The American Journal of Sports Medicine. 2006;34(11):1801-1808. doi:10.1177/0363546506289169
5. Palee S, Yener U, Abd-Elsayed A, Wahezi SE. Is Chronic Tendon Pain Caused by Neuropathy? Exciting Breakthroughs may Direct Potential Treatment. Current Pain and Headache Reports. 2024;28(12):1235-1239. doi:10.1007/s11916-024-01299-3
6. Palee S, Jarusriwanna A, Lee D, et al. Chronic Tendinopathy Driven by Neoinnervation: The Role of the Paratenon, Upregulated Neural Biomarkers, and Evolving Evidence--A Scoping ReviewPain Physician. 2025;28(4):287.
7. Schleip R, Müller DG. Training principles for fascial connective tissues: Scientific foundation and suggested practical applications. Journal of Bodywork and Movement Therapies. 2013;17(1):103-115. doi:10.1016/j.jbmt.2012.06.007
8. Schleip R, Duerselen L, Vleeming A, et al. Strain hardening of fascia: Static stretching of dense fibrous connective tissues can induce a temporary stiffness increase accompanied by enhanced matrix hydration. Journal of Bodywork and Movement Therapies. 2012;16(1):94-100. doi:10.1016/j.jbmt.2011.09.003
9. Warneke K, Rabitsch T, Dobert P, Wilke J. The effects of static and dynamic stretching on deep fascia stiffness: a randomized, controlled cross-over study. European Journal of Applied Physiology. 2024;124(9):2809-2818. doi:10.1007/s00421-024-05495-2
10. Brandl A, Engel R, Egner C, Schleip R, Schubert C. Relations between daily stressful events, exertion, heart rate variability, and thoracolumbar fascia deformability: a case report. Journal of Medical Case Reports. 2024;18(1). doi:10.1186/s13256-024-04935-z
11. Ulug N, Kodak SB, Kodak Mİ, Aslan SN. Role of Latissimus Dorsi–Thoracolumbar Fascia Complex Stretching on Pain and Pain‐Related Parameters in Patients With Chronic Low Back Pain: A Randomised Clinical Trial. European Journal of Pain. 2025;29(10). doi:10.1002/ejp.70143
12. Tomar P, Pattnaik S. The Role of Calf Stretching in the Management of Plantar Fasciitis: A Literature Review. Journal of Clinical & Diagnostic Research. 2025;19.
13. Schleip R, Wilke J. Faszientraining: In Sport, Bewegung Und Therapie. Elsevier Health Sciences; 2024.
14. Warneke K, Thomas E, Blazevich AJ, et al. Practical recommendations on stretching exercise: A Delphi consensus statement of international research experts. Journal of Sport and Health Science. Published online 2025:101067.
15. Warneke K, Thomas E, Blazevich AJ, et al. Practical recommendations on stretching exercise: A Delphi consensus statement of international research experts. Journal of Sport and Health Science. Published online 2025:101067.
